Die BSV berät
Wie wird man Logopäd*in mit einer Behinderung und wie gestaltet sich der Arbeitsalltag? Mit dieser Frage hat sich die BSV beschäftigt. Um eine Antwort zu finden, haben wir uns mit zwei Expertinnen zusammengesetzt: Annika Schmitz und Julia Scheer.
Annika Schmitz hat 2023 ihr Logopädiestudium in den Niederlanden abgeschlossen und arbeitet seither in einer Praxis in NRW. Die 25-Jährige schreibt zudem gerade ihr erstes Buch. Julia Scheer ist seit 19 Jahren mit Leib und Seele Logopädin und mit der „Bewegten Logopädie“ im Allgäu selbstständig. Die „Bewegte Logopädie“ ist ein ganzheitliches Therapiekonzept zur Sprachförderung, bei dem mit Pferden gearbeitet wird. Da Julia liebend gern reitet, ist es für die 42-Jährige eine tolle Möglichkeit, ihr Hobby in den Arbeitsalltag zu integrieren.
Könnt ihr kurz etwas über eure Behinderung erzählen?
A: Ich habe aufgrund eines Schlaganfalls im Mutterleib eine linksseitige Hemiplegie mit Spastik. Das zeigt sich vor allem in meinem Arm, betrifft aber die gesamte linke Körperhälfte.
J: Ich bin ein ehemaliges Frühchen und habe unter der Geburt einen Sauerstoffmangel erlitten, daher habe ich eine Zerebralparese mit Tetraspastik. Jetzt habe ich eine Lähmung im rechten Bein, bin aber fußläufig mit Unterarmstützen.
Hat eure Behinderung eure Ausbildung beeinflusst und beeinflusst sie eure Arbeit als Logopädin?
A: Therapien haben mich mein ganzes Leben lang begleitet. Die Entscheidung, Logopädin zu werden, war ein großer Schritt.
Während des Studiums hat mir das Thema Stimme immer etwas Sorgen bereitet. Ich habe dann aber selbst eine logopädische Therapie gemacht und so gelernt, damit umzugehen.
J: Im Gegenteil! Beruflich wäre ich ohne meine Behinderung heute nicht mit der „Bewegten Logopädie“ als eigenem Therapiekonzept selbstständig und im Aufbau des interdisziplinären Therapiezentrums Sonnenhof. Dadurch, dass ich die Hälfte meines Arbeitstages reite und somit in Bewegung bleibe, ist meine Spastik deutlich schwächer geworden.
Habt ihr oder jemand aus eurem Umfeld jemals daran gezweifelt, dass ihr aufgrund eurer Behinderung gute Logopädinnen sein könnt?
A: Ich habe mich für diesen Beruf entschieden und bin auch sehr glücklich damit. Insgesamt hat bisher jeder mit mir gearbeitet, sowohl im Studium als auch im Beruf. Besonders im Studium war das nie ein Problem. Zweifel daran, dass ich eine gute Logopädin sein kann, würde ich eher damit erklären, dass ich Berufsanfängerin bin.
J: Durch eine OP hatte sich die Spastik am Ende eines Arbeitstages auf mein Sprechen ausgewirkt. Da wusste ich nicht, ob ich weiterhin Vollzeit arbeiten sollte. Dank einer Kombination aus logopädischer Dysarthrie- und Dysphagietherapie habe ich diese Einschränkungen nun nicht mehr. Ein anderer Beruf würde für mich nie infrage kommen.
Wie reagiert euer berufliches Umfeld?
A: In der Anamnese mit Kindern erzähle ich zuerst kurz von mir und meistens ist das dann kein Thema mehr. Manchmal fragen auch die Kinder selbst danach.
Ich habe Klient*innen mit ähnlichen Einschränkungen, die mich als Vorbild sehen. Da bekomme ich auf einer anderen Ebene Feedback. Bei Erwachsenen ist das meist anders, da ist das bisher nie ein Thema gewesen. Meine Kolleg*innen unterstützen mich bei allem.
J: Für die Eltern meiner Patient*innen bin ich eine Hoffnungsträgerin, weil ich mit oder gerade wegen meiner Behinderung so viel erreicht habe.
Wie schränkt die Behinderung euch ein? Welche Perspektiven ermöglicht sie euch aber auch?
A: Ich sehe es sowohl als Einschränkung als auch als Bereicherung. Auf der einen Seite kann ich die Patient*innen wegen meiner Behinderung oft besser verstehen.
Auf der anderen Seite sehe ich meine körperlichen Einschränkungen als einen Nachteil. Für manche Sachen braucht man zwei Hände, z.B. für manuelle Therapien. Aber das teile ich mir dann mit meinen Kolleg*innen auf. Stimmtherapie mache ich auch nicht so gerne, da meine Stimme nicht die perfekte Logopäd*innenstimme ist. Auch würde ich sagen, dass der Arbeitsalltag generell anstrengender ist.
J: Durch die Behinderung brauche ich bei der Arbeit am Pferd eine Assistenz. Insgesamt bin ich dem Leben für meine Geschichte aber dankbar. Meine Behinderung hat dafür gesorgt, dass ich Empathie und ein besonderes therapeutisches Feingefühl für die Patient*innen entwickelt habe.
Wie stellt ihr euch eine inklusivere Logopädie in der Ausbildung, im Studium und im Berufsalltag vor?
A: Allgemein würde ich mir noch mehr Unterstützung vom deutschen Gesundheitswesen wünschen. Ich habe einen Schwerbehindertenausweis, welcher mir ein paar Urlaubstage mehr ermöglicht. Aber viele Anträge, auf z.B. einen Mollii Suit gegen die Spastik, werden abgelehnt.
J: Ich wünsche mir, dass Menschen mit Behinderung, insbesondere mit geistiger Behinderung, als Assistenzkräfte in therapeutischen Settings eingesetzt werden. Ich habe schon oft beobachten dürfen, dass sich die Patient*innen durch so eine bereichernde Assistenzkraft ganz anders abgeholt fühlen.
Gesamtgesellschaftlich wünsche ich mir, dass alle Menschen als Bereicherung erkannt werden und sie überall auf offene Türen treffen.
Ich möchte gerne den Betroffenen noch eins sagen: Eine Behinderung muss kein Hindernis sein. Grenzen entstehen oft nur im eigenen Kopf. Glaubt an eure Fähigkeiten und kämpft für die eigenen Ziele.
Wir bedanken uns für die interessanten Gespräche mit euch.
Nina Hildebrandt und Marietheres Pscheidt (für die BSV)