Die interne klinisch-praktische Ausbildung
Das Gespräch führte Vera Wanetschka.
? Sabine, Du bist eine langjährig erfahrene Schulleiterin der ehemaligen Schule für Logopädie in Erlangen und jetzt Studiengangskoordinatorin des primärqualifizierenden Studiengangs für Logopädie an der Universität Erlangen. Was sind deine prägnanten Erfahrungen in der Veränderung von der Schulausbildung zum Hochschulstudiengang in Bezug auf die klinisch praktische Ausbildung?
Sabine Weyers: Die uns so wichtige klinisch-praktische Ausbildung wurde ohne Komplikationen (Personal, räumliche Ressourcen) in den universitären Rahmen aufgenommen. Für die medizinische Fakultät wurde das Arbeiten mit realen Patient*innen nie infrage gestellt. Neu in diesem Setting ist lediglich hier, dass auch praktische Prüfungen Modulnoten ergeben. Ziel der praktischen Ausbildung an der Hochschule ist das evidenzbasierte Herangehen und die Erarbeitung von Transparenz im Reflexionsprozess. Für die Bewertung der praktischen Ausbildungsschritte wurden mit Juristen Standards entwickelt.
Die theoretischen Konzepte für die Theorie-/Praxiskopplung wurden von uns neu aufgestellt. Sie orientieren sich am Kompetenzprofil nach Rausch et al. (2014) und an der LogAprO (1980). Die zentralen Eckpfeiler sind leitliniengestützte Therapieansätze und die Grundlagen nach der Internationalen Klassifikation für Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Bedeutsam sind auch das Arbeitstypenmodell nach Hansen (2010) oder das grundsätzliche Konzept des Clinical Reasoning (CR) (Beushausen 2019).
? Jana, Du arbeitest seit 2005 in der Schule für Logopädie in Halle und hattest zwölf Jahre davon die Fachrichtungsleitung inne. Welcher Anspruch an die klinisch-praktische Ausbildung hat sich in den Jahren bei Euch entwickelt und welche Wünsche hast Du an die Weiterentwicklung?
Jana Post: Auch wir beziehen in unserer Konzeption die ICF und das CR stark ein. Wichtig erscheint uns vor allem der Aufbau von Reflexionsfähigkeit. Das versuchen wir zunächst darüber, dass sich Lernende zu Beginn jedes Semesters im Bezug auf die/den aktuell zu therapierenden Patient*in schriftlich im Kompetenzprofil (Rausch et al. 2014) verorten, sich entsprechende Ziele setzen und ihre Entwicklung am Ende des Semesters mit dem/der Supervisor*in überprüfen. Zudem regen wir mündliche Reflexionen natürlich auch in den Einzelsupervisionen an. Wir arbeiten fortwährend daran, unser Supervisionskonzept so weiterzuentwickeln, dass alle Kompetenzbereiche optimal einbezogen werden und eine von der Lehrperson unabhängige Vereinheitlichung der Vorgehensweise angeboten werden kann.
? Welche Kompetenzziele diskutiert Euer Team beim Aufbau der therapeutischen Qualifikation und um eine Vereinheitlichung zu fördern?
Jana Post: Lernende benötigen Kompetenzen im Bereich Wissen, Fähigkeiten, Sozialkompetenz und Selbstständigkeit. Dabei sind die persönlichen Ressourcen und Ziele sehr unterschiedlich und müssen für eine spezifische Weiterentwicklung betrachtet werden. Die Strukturen und Vorgehensweisen im Begleitprozess zur Aneignung therapeutischer Kompetenzen sollen für die Lernenden transparent und überprüfbar werden.
? Hat sich der Aufbau der Kompetenzziele auf dem Weg zum Hochschulstudium verändert und wenn ja, welche Veränderungen sind zu verzeichnen?
Sabine Weyers: Veränderungen sind für mich in der Zielorientiertheit und der stetigen Anpassung der Ziele an die Patient*innen sichtbar. Die Reflexionsfähigkeit der Student*innen steht noch mehr im Vordergrund und wird auch bewertet, gleichwertig zur Therapie. Dafür mussten Messtabellen und Werte entwickelt werden, die als Standards an der Uni hinterlegt werden müssen. Das heißt, wir sind auch im praktischen Bereich zum Thema Wissenschaftlichkeit gefordert, was nicht immer leicht ist, weil die Forschung im klinisch-didaktischen Bereich noch sehr in den Kinderschuhen steckt und es eben noch keine klinischen Professuren gibt. Als praktisches Beispiel sei hier die Planung des Therapieprozesses über mindestens zehn Stunden genannt. Die Planungen und Reflexionen erfolgen in den vier Hauptstörungsgebieten schriftlich und nach wissenschaftlichen Kriterien.
? Diskutiert Ihr in Halle und in Erlangen ein Grundlagenmodell (Menschenbild), auf das ihr Eure Ausbildungskonzeptionen im klinisch-praktischen Bereich aufgebaut habt?
Jana Post: Für uns in Halle spielt das Menschenbild der humanistischen Bewegung und des konstruktivistisch-systemischen Ansatzes eine Rolle. Das eine propagiert das eigenverantwortliche Lernen in einem positiv gestalteten Kontakt wie z.B. bei Rogers Gesprächsführung (2010). Das andere basiert darauf, dass Wahrnehmung immer subjektiv ist und der/die Therapeut*in ebenfalls keine objektive Sicht auf Systeme für sich beanspruchen kann. Außerdem leiten uns die systemischen Grundhaltungen – Ressourcen, Zielklärung und Neugier – in den Arbeitsprozessen mit den Patient*innen sowie den angehenden Therapeut*innen.
Sabine Weyers: Unser Supervisionsmodell ist ausgestaltet nach Regeln der Transaktionsanalyse (Berne 2001) und wir berücksichtigen das Modell der Arbeitstypen nach Hansen (2010). Auch konstruktivistisch-systemische Ansätze wie z.B. nach von Schlippe et al. (2007) finden hinsichtlich der Reflexion der Arbeitsbeziehungen im Patient*innen-Therapeut*innen-Kontext Anwendung. Es geht uns um ein angstfreies Lernen. Wir nützen die Taxonomie des Lernens: Also, eine Beginnerin, die noch unsicher ist in ihrer eigenen Rolle als Therapeutin, braucht andere Unterstützung als eine Studentin, die am Ende des Studiums schon viele Erfahrungen gemacht hat.
? In diesem Schwerpunktheft wird der Ansatz von Bordin (1979) zur Entwicklung der Arbeitsbeziehung als Diskussionsangebot eingestellt. Es könnte kritisiert werden, dass dieser Ansatz mit den Eckpunkten „Goals“, „Tasks“ und „Bonds“ alter Wein in neuen Schläuchen darstelle. Wie betrachtet Ihr diesen Ansatz in der klinisch-praktischen Ausbildung in Bezug auf Euer erarbeitetes System in Euren Einrichtungen?
Jana Post: Der Ansatz von Bordin klingt spannend. Die Arbeit mit Zielen und Aufgabenstellungen ist tatsächlich nicht neu, aber die dreistufige Aufarbeitung kann für Lernende die Verinnerlichung auf der Wissensebene begünstigen. Spannend könnte werden, dass über dieses Modell eine gute Therapeut*in-Patient*in-Beziehung evaluierbar werden könnte. Wir haben alle eine Idee davon, wie wichtig die Arbeitsbeziehung für die Motivation der Patient*innen und letztlich auch die Effizienz der Behandlung ist, aber es gibt zu diesem Aspekt wenig valide Daten. Eine genauere Beschäftigung damit würde auch unserem (aufwendigen) internen Praxiskonzept und der Supervisionsarbeit Rückenwind geben, weil dann deutlich werden würde, dass die Sozialkompetenz eine besondere Aufmerksamkeit und Räume zum Erfahren und Reflektieren benötigt.
Sabine Weyers: Ich bewerte diesen Ansatz so, dass wir ihn bereits leben – allerdings mit anderen Bezeichnungen und Begrifflichkeiten. Goals: Das bedeutet für mich Vertragsarbeit, diagnostizieren und davon Ziele ableiten und abgleichen. Ein messbares, bedeutsames, ressourcenorientiertes Arbeiten. Tasks: Klärt die Auswahl der geeigneten Methode und Verantwortlichkeiten. Bonds: Das wäre für mich ein positiv wahrgenommenes emotionales Bündnis. Dafür ist ein angstfreies Lernen notwendig, eine feinfühlige und doch klare Führung am Beginn, ein Loslassen und Zutrauen am Ende sowie die eigenen Gefühle in einer Therapie reflektieren zu können. Das bedeutet auch, die personale Entwicklung der Student*innen zu begleiten – sicherlich im Ausbildungsprozess der schwierigste Aspekt, auch hinsichtlich der Benotungsnotwendigkeit vonseiten der Lehrenden.
? Wenn eine Fee es ermöglichte, dass allen Lehrenden in der klinisch-praktischen Ausbildung eine spezielle Qualifikation ermöglicht würde, welche Qualifikationen würdet Ihr empfehlen?
Jana Post: Im Team eine gemeinsame Ausbildung im Bereich Ausbildungssupervision auf der Basis z.B. eines humanistischen Menschenbildes wie der Transaktionsanalyse oder eines konstruktivistisch-systemischen Modells.
Sabine Weyers: Da schließe ich mich an und ergänze, wie wichtig ich es fände, wenn wir eine klinische Professur zur Verfügung hätten, die z.B. in den Bereichen Lehr-/Lerndidaktik, Evidenzbasierung im Therapieprozess und Reflexionsfähigkeit lehrt und forscht.
Vielen Dank für das Gespräch nach Halle und Erlangen.
Literatur
Berne, E. (2001). Die Transaktions-Analyse in der Psychotherapie. Paderborn: Junfermann
Bordin, E.S. (1979). The generalizability of the psychoanalytic concept of the working alliance. Psychotherapy: Theory, Research & Practice 16 (3), 252-260
Beushausen , U. (Hrsg.) (2020). Therapeutische Entscheidungsfindung in der Sprachtherapie. München: Reinhardt
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (2005). Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. BfArM – ICF. (24.11.2023)
Hansen, H. (2009). Therapiearbeit. Eine qualitative Untersuchung der Arbeitstypen und Arbeitsmuster ambulanter logopädischer Therapieprozesse. Idstein: Schulz-Kirchner
Rausch, M., Thelen, K. & Beudert, I. (2014). Kompetenzprofil für die Logopädie. Frechen: dbl
Rogers, C. (2010). Therapeut und Klient. Frankfurt: Fischer TB
Von Schlippe, A. & Schweitzer, J. (2007). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Kontakt
Jana Post
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Sabine Weyers
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